Samstag, 27. Februar 2016

- Thema "Flüchtlinge", Teil 6


Teil 6:

Italienisch angehauchte Lebensfreude“ wollen der Stadtmarketing-Verein und Einzelhändler aus Lage im kommenden Frühling nach Lage bringen. „Wie zaubert man italienisches Flair in die Geschäfte und Lagenser Innenstadt?“ lautete die Ausgangsfrage (LZ vom 27.2.2016). „Italienisches Essen und Getränke“ sollen dabei „die Sinne erfreuen“. Das hört sich wirklich gut an.

Und wann hatten Sie Ihre letzte knusprige Pizza, vielleicht original „vom Italiener“ um die Ecke? Oder lieber Spaghetti, weil die dort immer so wunderbar „al dente“ sind? Oder hatten Sie vielleicht einen Döner aus der türkischen Imbissstube eine Straße weiter? Oder Dolmadaki (Weinblätter) oder Auberginen-Auflauf vom Griechen? Oder diesen tollen Fisch aus dem kleinen portugiesischen Lokal in der Nachbarstadt?

Wunderbar hört sich das alles an. Und ganz selbstverständlich gehört das heute für uns zur Auswahl, wenn es ums gute Essen geht. Wer möchte schon auf einen Besuch in einem schönen italienischen Restaurant verzichten? Wer liebt nicht die Speise- und Lebenskultur der Süd- und Südosteuropäer (wenn auch manchmal nur im Urlaub und in der Freizeit)?

Das ist die eine Seite. Aber es gibt leider auch eine andere.

Für die Jüngeren ist es schon Geschichte, die Älteren aber werden sich vielleicht noch persönlich erinnern: Es war mal alles ganz anders, und das ist noch gar nicht lange her. Noch vor 60 oder 65 Jahren kannte man Pizza, Spaghetti, Döner, Gyros oder Auberginen-Auflauf bei uns nicht. Auch Italiener, Türken, Spanier, Portugiesen, (damals) Jugoslawen oder Griechen gab es hier kaum. Und als sie kamen, wurden sie abgelehnt – wie fast immer, wenn etwas neu und ungewohnt ist.

Damit sind wir beim heutigen Thema. Wenn wir und Sie nämlich jetzt fragen, wie denn die Pizza und die südeuropäische Kultur nach Deutschland gekommen sind, sind wir beim Thema „Gastarbeiter“ (1). Daraus gibt es auch einiges zu lernen für den aktuellen Umgang mit der sog. „Flüchtlingskrise“ (ein Begriff im Übrigen, der die Situation nicht wirklich trifft).

Auch „Gastarbeiter“ wurden nämlich zuerst abgelehnt, teilweise vehement. Heute gehören sie, ihre Nachkommen, ihre Speisen und ihre Kultur ganz selbstverständlich zum Leben und zur Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Es ist ganz offenbar so, dass das, was mit den „Gastarbeitern“ begann, eine Bereicherung für unser Leben war, nicht nur wirtschaftlich. Wenn wir uns dessen auch in der aktuellen Situation noch einmal ganz bewusst werden, verpufft ein großer Teil der Aufregung über die angebliche "Islamisierung" oder den "Untergang der deutschen Kultur" wahrscheinlich ganz von selbst.

Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts kamen die ersten „Gastarbeiter“ ins Land. 

Es begann 1955 mit den Italienern, und zwar durch ein Anwerbeabkommen zwischen der deutschen Regierung unter Konrad Adenauer (CDU) und der italienischen Regierung. Beide Seiten hatten ein Interesse an diesem Abkommen: In Italien (wie auch in anderen südlichen Ländern) fehlten teilweise die wirtschaftlichen Perspektiven für eine Beschäftigung vor allem für Männer im jüngeren und mittleren Alter. Und in Deutschland hatte nach Problemen in den ersten Nachkriegsjahren die Wirtschaft begonnen zu wachsen. Es herrschte nicht nur Vollbeschäftigung, sondern es gab (oder drohte) z. T. Arbeitskräftemangel. Heute würde man ein solches Anwerbeabkommen also wohl als „Win-win-Situation“ bezeichnen.

In den folgenden Jahren (1960-1968) kamen Abkommen mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und dem damaligen Jugoslawien hinzu.

Wir wollen und können uns hier nicht mit allen historischen Details beschäftigen. Aber wir halten noch einmal fest, dass die Situation damals sogar so war, dass die Italiener (bleiben wir einmal bei diesem Beispiel, weil sie die ersten waren) von den Deutschen freiwillig ins Land geholt worden waren, weil sie eine Hilfe werden und die deutsche Wirtschaft zum Wachsen bringen sollten (und das dann auch taten).

Das war also in dieser Hinsicht für die Deutschen noch eine völlig andere, nämlich positivere Situation als die heutige Flüchtlingssituation. Und dennoch wurden die Italiener in Deutschland nicht etwa durchgehend willkommen geheißen, sondern sie wurden häufig abgelehnt und diskriminiert. Es gab böse Bezeichnungen, die man eher Rechtsradikalen zuordnen würde, aber wohl nicht nur von ihnen stammten: Itaker, Mafiosi, Spaghettifresser, für die anderen: Kanaken, „die Türken“ oder auch „Kümmeltürken“, „Türken raus“ – die Zeitgenossen mögen es heute nicht mehr gerne hören, aber erinnern werden sie sich vielleicht noch.

Noch einmal: Die „Gastarbeiter“ waren von uns ins Land geholt worden und für Deutschland ausgesprochen nützlich und gewinnbringend! In den Betrieben waren sie den deutschen Kolleginnen und Kollegen auch weitgehend gleichgestellt, was beispielsweise Tariflöhne und Arbeitszeiten anbetraf. An den Arbeitsplätzen gab es noch am wenigsten Probleme, dort galten sie relativ schnell als „Kumpel“. Aber gesellschaftlich wurden die "Gastarbeiter", man muss es so deutlich sagen, häufig diskriminiert und ausgegrenzt - nicht von allen natürlich (das ist ja heute bei den Flüchtlingen auch nicht so), aber von vielen.

Eigentlich war gedacht, die „Gastarbeiter“ nur für eine begrenzte Zeit hier zu behalten und dann wieder in die Heimatländer zurückzuführen. Daher lebten sie, manchmal wegen fehlender Möglichkeiten, häufig aber auch um Geld zu sparen und es nach Italien an die Familien zu überweisen, in billigen Gemeinschaftswohnungen oder Wohnheimen, was z. T. zu einer Art „Gettobildung“ führte. Und da sie in den Betrieben meist als an- oder ungelernte Arbeiter für die Erledigung von minderwertigen oder dreckigen Arbeiten eingestellt worden waren, galten sie bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung eben auch als minderwertig und dreckig – obwohl sie die Arbeiten machten, zu der viele Deutsche schon nicht mehr bereit waren (und dadurch die deutschen Arbeiter entlasteten). Angebliche Unpünktlichkeit, viel Freizeit und Faulenzerei und möglichst wenig Arbeit, viele Pausen, lockerer Umgang mit Frauen,… – alle möglichen (oft sicher auch aus Neid gespeisten) Vorurteile gegen die Südeuropäer wurden auch damals schon mobilisiert. Und selbst in der ersten Zeit, als es auf fast schon absurde Weise genau andersherum war, kam der Vorwurf, die Ausländer nähmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg. Später, als auch in der deutschen Wirtschaft die ersten Einbrüche kamen, verstärkte sich dieser Vorwurf selbstverständlich noch.

Vielleicht kommt Ihnen das eine oder andere dieser Vorurteile bekannt vor, z. B. aus der aktuellen Diskussion …

Gleichzeitig aber begann es in der „Wirtschaftswunderzeit“ in der Bundesrepublik Deutschland modern zu werden, nach Italien in Urlaub zu fahren. Immer mehr Deutsche waren jetzt motorisiert und konnten sich eine kleine Urlaubsreise leisten. In Italien genoss man einen Lebensstil, den man den italienischen Arbeitern in Deutschland vorwarf. Im Urlaub war alles schön. Zuhause hörte man sich dann noch einmal an, wie Rudi Schuricke mit gefühliger Stimme die „Capri - Fischer“ besang. Die Italiener nebenan aber waren wieder die minderwertigen „Gastarbeiter“, die sie vorher auch gewesen waren.

Die eigentlich nach einer begrenzten Aufenthaltsdauer geplante Rückführung der „Gastarbeiter“ scheiterte auch damals schon. In der Wirtschaftskrise von 1973 (ausländische Beschäftigte in diesem Jahr: 2.595.000 Menschen = 11,9 %) gab es einen „Anwerbestopp“, der sich aber als eine Art von Bumerang auswirkte, da er den anwesenden „Gastarbeitern“ nur die Alternativen „endgültige Rückkehr in die Heimat“ oder „Familiennachzug in die Bundesrepublik“ ließ. 

Natürlich kehrten viele zurück, viele aber blieben und holten ihre Familien nach. „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen“, schrieb der Schriftsteller Max Frisch. Das bedeutete eben auch: Mit Menschen kann man nicht am Reißbrett und planbar wie mit toter Materie umgehen. Die Perspektiven zu Hause waren häufig düster. Also blieben viele der ehemaligen „Gastarbeiter“. Nach und nach gehörten sie zum Stadt- und Ortsbild, eröffneten Lokale, boten Dienstleistungen an und passten sich in wesentlichen Bereichen auch an deutsche Lebensgewohnheiten an. Heute gehören Pizza und Spaghetti, italienische Restaurants, Döner und Gyros, türkische Änderungsschneider und vieles mehr relativ selbstverständlich zum allgemeinen Leben in Deutschland. Noch mehr: Wir würden sehr viel vermissen, wenn es das nicht mehr gäbe. Unser Leben würde ärmer. Und unsere Rentenkasse würde leerer.

Daran sollten wir vielleicht hin und wieder denken, wenn wir in Panik geraten, weil ausländische Bürgerinnen und Bürger an den Grenzen stehen und in unser Land möchten. Manchmal kann man aus der Geschichte eine Menge lernen – wenn man will.

(1) Wir verwenden den Begriff „Gastarbeiter“ als Zitat und setzen ihn daher in Anführungszeichen. Das Wort ist einerseits historisch nicht völlig unbelastet, weil es von den Nationalsozialisten in den letzten Jahren bereits für die Fremdarbeiter (freiwillige ausländische Zivilarbeiter) im Nazireich verwendet wurde. Und zweitens ist es in sich eher unstimmig: Man kommt entweder als Gast oder aber als Arbeiter in ein Land, aber nicht als „Gastarbeiter“. Da aber in den fünfziger und sechziger Jahren der Begriff „Gastarbeiter“ gängig war, verwenden wir ihn hier auch.

Sonntag, 21. Februar 2016

- Thema "Flüchtlinge", Teil 5


Teil 5:

Liebe Besucherinnen und Besucher, 

es stehen noch Antworten auf mehrere Fragen aus, die wir in den letzten Teilen bereits angesprochen hatten.

Heute wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob es denn stimmt und ob es Belege und Begründungen dafür gibt, dass die Bundesrepublik Deutschland eigentlich bereits seit ihrem Beginn ein Zuwanderungsland sei. Und wir wollen uns damit beschäftigen, was es denn für die aktuelle Diskussion bedeuten könnte, wenn diese Aussage stimmen sollte

Der Beitrag ist etwas länger als sonst üblich, aber das ließ sich wegen der Komplexität des Themas leider nicht vermeiden.

Es klingt vielleicht etwas überraschend, aber wir wollen diesmal mit der Beantwortung der zweiten Frage beginnen:

Wenn es denn stimmen würde, dass die Bundesrepublik Deutschland bereits seit ihrem Beginn ein Zuwanderungsland ist, dann wäre ein großer Teil der Befürchtungen, die jetzt geäußert werden, mehr oder weniger hinfällig. 
Beispielsweise wäre die Befürchtung hinfällig, unser Land würde „überschwemmt“ (von Ausländern, von Muslimen, von Andersartigen, von Nicht-Deutschen,…) und schaffe die notwendigen Umstellungen und die Integration nicht, etwa, weil es ja den Umgang mit Zuwanderern nicht kenne und weil das alles neu und zu viel sei. 

[Zusatzbemerkung an dieser Stelle: Die Bemerkungen zur Bundesrepublik Deutschland gelten wegen der historisch unterschiedlichen Entwicklung der beiden Teile Deutschlands bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung natürlich nur für das damalige Westdeutschland. Wenn es denn stimmt, dass bereits gemachte Erfahrungen mit Zuwanderern bei neuer Zuwanderung auch bestimmte Befürchtungen mindestens mindern, dann wäre das evtl. ein Teil einer Erklärung dafür, dass auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Ablehnung und Fremdenfeindlichkeit noch deutlich massiver und irrationaler hervortreten als in Westdeutschland. Denn die ehemalige DDR hat außer mit 60.000 Vietnamesen und einigen Mosambikanern so gut wie gar keine Erfahrungen mit Zuwanderung und Fremden gemacht, stattdessen eher Probleme mit Abwanderung gehabt.

Oder die Befürchtung würde hinfällig, durch Zuwanderung würde die „deutsche Leitkultur“ zerstört (was immer das auch sein sollte) – oder möglicherweise die deutsche Kultur generell. Es würde auch die Befürchtung hinfällig, dass durch Zuwanderung die internen Sozialsysteme zerstört würden oder dass der Arbeits- oder der Wohnungsmarkt irreparabel durcheinander geriete. Alle diese und andere in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion immer wieder geäußerten Befürchtungen wären überflüssig oder übertrieben, da ja in der Geschichte der Bundesrepublik (wenn sie denn Zuwanderungsland wäre) bewiesen worden wäre, dass diese Bundesrepublik mit Zuwanderern umgehen kann und die Zuwanderung sich offenbar sogar positiv ausgewirkt hat. Denn dass es der Bundesrepublik Deutschland wegen einer möglichen Zuwanderung, wenn es denn so wäre, schlecht geht, wird niemand ernsthaft behaupten wollen.

In der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion wird zum Teil noch unterschieden zwischen "Einwanderungsland" und "Zuwanderungsland". „Einwanderung“ wird dabei eher so verstanden, dass Menschen gezielt und relativ kontrolliert hierher kommen, um zu arbeiten und zu bleiben. „Zuwanderung“ dagegen hat in diesem Verständnis eher den Charakter von unkontrolliert und willkürlich. 
Im Grunde müssten wir diese Unterscheidung in unseren Ausführungen auch noch berücksichtigen. Aber wir möchten es nicht unnötig kompliziert machen und verwenden die beiden Begriffe daher hier mehr oder weniger synonym, und zwar in dem Sinne, dass ein Einwanderungs- bzw. Zuwanderungsland ein Land ist, in dem Einwanderer bzw. Zuwanderer einen erheblichen Teil der Bevölkerung und des Lebens der Bevölkerung ausmachen
„Erheblich“ heißt hier, dass die Zuwanderer qualitativ und quantitativ im öffentlichen Leben der Bundesrepublik eine solche Rolle spielen, dass es ohne sie zu deutlich merkbaren Veränderungen kommen würde, dass also die ausländischen Zuwanderer Rollen spielen oder Leistungen erbracht haben, deren Fehlen sich deutlich bemerkbar machen würde. 
„Erheblich“ wäre beispielsweise, wenn ohne die Zuwanderer nicht mehr annähernd die gleiche Arbeitsleistung erbracht werden oder in etwa das gleiche Bruttosozialprodukt erwirtschaftet werden könnte oder wenn nicht mehr alle Schulklassen (vor allem Grundschulklassen) besetzt werden und damit das vorhandene Schulangebot aufrecht erhalten werden könnte oder wenn sich deutliche Einschränkungen im Dienstleistungsangebot ergeben würden (Gaststätten, Eiscafés, Imbissstuben,…) oder wenn das deutsche Sozialsystem wegen fehlender Beiträge (etwa im Rentenbereich) deutliche Finanzierungsschwierigkeiten hätte usw., usw.

Beginnen wir uns also mit der Frage zu beschäftigen, ob man denn die Bundesrepublik Deutschland als „Zuwanderungsland“ bezeichnen kann – und wenn ja, ab wann.

Allein durch die vorherigen Bemerkungen wird die Richtung wohl bereits deutlich: Selbstverständlich ist die Bundesrepublik Deutschland nach diesen Kriterien (und das sind die Kriterien, die für eine Einstufung üblich sind) ein Zuwanderungsland, und zwar schon seit kurz nach der Gründung! Denn selbstverständlich würde ohne die Arbeitsleistung der vielen hier lebenden Ausländer (oder auch bereits Eingedeutschten) die Produktion erheblich einbrechen und das Bruttosozialprodukt sinken. Und selbstverständlich würden ohne sie Schulen geschlossen werden müssen. Und selbstverständlich würde das gesellschaftliche und kulturelle Leben erheblich ärmer. Und selbstverständlich müssten wir auf viele Dienstleistungen, kulturelle Angebote und Speisen verzichten. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Das bedeutet: Selbstverständlich ist die Bundesrepublik Deutschland ein Zuwanderungsland.

Insgesamt kann man für die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg von drei oder vier großen Zuwanderungsprozessen sprechen.

Der erste Prozess war die Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen als Folge des Zweiten Weltkrieges. 
Dann begann Mitte der fünfziger Jahre – als zweiter großer Prozess – die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften mit der Einwanderung von sog. „Gastarbeitern“. Aus diesem Prozess, nämlich dem Umgang mit den sog. „Gastarbeitern“, lässt sich eine Menge lernen im Hinblick auf den aktuellen Prozess, nämlich den Umgang mit den Flüchtlingen. Wir werden daher auf diesen Prozess noch einmal spezifisch eingehen. Damit der jetzige Beitrag aber nicht noch länger wird, werden wir das in einem separaten Beitrag noch einmal tun. 
Der dritte Prozess war die, etwas anders geartete, „Eingliederung“ der Menschen aus der ehemaligen DDR und ihrer Geschichte nach der erfolgten Wiedervereinigung. 
Als vierter Prozess über fast die gesamte Zeit hinweg, in der Spitze allerdings vor allem ca. vom Ende der achtziger bis zur Mitte der neunziger Jahre, kam der Prozess der Eingliederung der als „deutsche Volkszugehörige“ bezeichneten Menschen aus den (z. T. ehemaligen) kommunistischen Staaten Ost- und Südosteuropas (den sog. „Aussiedlern“) hinzu.

Klaus J. Bade, Professor an der Uni in Osnabrück und Direktor des dortigen Instituts für Migrationsforschung, gibt uns 1995 ein paar genauere Zahlen und Einschätzungen:


Klaus J. Bade, Einheimische und Fremde; aus: Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. v. Alexander Demandt, 1995, S. 220-224

Noch einmal, was dort steht: Bis zur Wiedervereinigung lebten in Westdeutschland knapp 60 Millionen Einwohner. Davon waren seit 1945 etwa 15 Millionen Menschen zugewandert!! Und: Seit 1987 nahm die Bundesrepublik jährlich mehr Zuwanderer auf als die beiden klassischen Einwanderungsländer Kanada und Australien zusammen!!

Der Historiker, Journalist und Autor Wilhelm von Sternburg kommt in einer Rezession des Bands 5 „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ des renommierten Bielefelder Historikers Prof. Hans-Ulrich Wehler zu der eindeutigen Feststellung:

Bald dann, als die Bundesrepublik zu einer Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist und die eigene Bevölkerung nicht mehr ausreicht, die Forderungen der Industrie nach Arbeitskräften zu befriedigen, holen die Westdeutschen die Gastarbeiter ins Land. Bis in unsere Tage hinein verschließt die Politik vor dem, was sich da bevölkerungspolitisch entwickelte, die Augen. Die Bundesrepublik ist – mit all ihren kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen - ein Einwanderungsland geworden.“ (Deutschlandradio Kultur 31.8.2008)

Und Prof. Wehler zitiert er ebd. mit Zahlen aus dessen Werk „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“, die den Zahlen und der Einschätzung von Prof. Bade (s. o.!) voll entsprechen:

"Im Gesamteffekt weist die Bundesrepublik zwischen 1950 und 2000 - in relativer Größenordnung - die weltweit höchsten Zuwanderungsraten auf. Um 1990 besaß sie - erneut relativ - mehr im Ausland geborene Einwohner als die USA. In den ersten vierzig Jahren ihrer staatlichen Existenz übertraf sie damit den klassischen Einwanderungsrekord, den die ´New Immigration` in die Vereinigten Staaten zwischen 1910 und 1913 bisher markiert hatte." (H.-U. Wehler, Dt. Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5; Beck-Verlag, München 2008)

Also: Wenn Deutschland kein Zuwanderungsland ist, welches Land ist es dann?

Warum aber ist jahrzehntelang der Status „Zuwanderungsland“ beinahe schamhaft immer wieder verleugnet worden – und wird es teilweise bis heute, obwohl wir offene europäische Grenzen und eine Globalisierung haben, nationale Merkmale also doch eigentlich immer mehr verschwinden sollten?

Die Bundesregierung spricht Gott sei Dank und realistischer Weise seit einigen Jahren von Deutschland als einem Zuwanderungsland. Bei einzelnen Politikern und auch innerhalb der Gesellschaft sieht das teilweise noch ganz anders aus. Warum ist das so?

Die Antwort ist nicht ganz einfach, weil bei einer Leugnung eines Zustands die Begründungen ja in der Regel nicht mitgeliefert werden.

Es dürfte etwas zu tun haben mit einer irgendwie gearteten Verletzung des „nationalen Stolzes“. Offenbar sieht man es in bestimmten Kreisen als eine Art von Schwäche an, dass ein Land ein Zuwanderungsland ist – als ob das ein Makel wäre! Schließlich war Deutschland auch schon einmal "Auswanderungsland" und schließlich waren und sind große Länder dieser Erde auch Zuwanderungsländer und sind dadurch erst "groß" geworden. Offenbar aber ist aus einer "nationalen" Perspektive ein Status „Zuwanderungsland“ gleichzeitig ein Eingeständnis einer Schwäche, dass man es allein nicht schaffen könne oder so etwas Ähnliches.

Wie unsinnig und überholt eine solche Vorstellung ist, vor allem im Zeitalter der Globalisierung, kann man sich leicht vor Augen führen, wenn man sich z. B. die aktuelle Zusammensetzung der „deutschen“ Fußballnationalmannschaft vor Augen führt. Sie ist das klassische Produkt eines Zuwanderungslandes - und gleichzeitig ein Zeichen für gelungene Zuwanderung. Denn sonst wären wir nicht im vorletzten Jahr Fußballweltmeister geworden.

Soweit für heute zu der Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland denn nicht längst Zuwanderungsland sei und warum man angesichts aktueller neuer Zuwanderungen in einigen Bevölkerungsteilen sofort in Panik verfalle.

Im nächsten Teil beschäftigen wir uns noch ein wenig mit dem Thema „Gastarbeiter“ und was man daraus für die heutige Situation lernen kann. Und es folgen noch weitere Teile zu weiteren Fragestellungen.

Bis dann!

Ihre

BBL